Das vielleicht älteste Streitthema der Sozialwissenschaftenmit der Genetik (Vererbungswissenschaft) ist ja, was der Mensch als Erbanlagen mitbekommt und was die Gesellschaft mit ihren Verhältnissen und Bedingungen zu dessen Entwicklung beiträgt. Gerade bei der Schuldfindung nach Gewaltdelikten beschäftigt und erhitzt dieses Thema Wissenschaft, Staat, Gesellschaft und Öffentlichkeit. Die Frage nach der Vererbbarkeit von Intelligenz etwa, die Sarrazin (neben anderen klügeren) in seinem Buch gestellt hat; sorgte ja vor einiger Zeit für viel Wirbel, ohne dass hier bislang erbbiologisch solide und belastbare Erkenntnisse vorlägen. Die Diskussion zeigte aber, wie ideologisch und wissenschaftsfern hier in der Regel debattiert wird.
Das gleiche Problem beschäftigt nun aber seit Anbeginn die Kynologie und ist dort von ungleich praktischer Bedeutung für Zucht, Aufzucht, Haltung, Erziehung und Ausbildung! Wenn auf dem Hundeplatz einige Hunde miteinanderspielen und toben und andere an der Leine bleiben müssen; weil sie am innerartlichen Kontakt wenig entspannte Freude haben bzw. den Respekt ihres Rangs einfordern würden; denkt sich sicher so mancher Beobachter, die einen wären gut erzogene und artige Hunde und die anderen asoziale Bestien! Dass das natürlich totaler Unsinn ist, muss ich hier sicher niemandem erläutern. Nur allzu häufig allerdings wird Sozialisation und Erziehung auch und besonders von Züchtern und
Hundetrainern als Totschlagargument missbraucht, um von anderen Unzulänglichkeiten und von bestimmten Basics abzulenken.
Wer kennt sie nicht, die Vorwürfe; wenn auf einmal HD im Raum steht und durch Röntgten bewiesen wird; der Hund sei zu früh belastet worden, hätte Treppen steigen und zu viel und zu zeitig springen müssen! Obwohl gerade bei diesem verbreiteten Befund so viele Faktoren schon bei der Vererbung eine Rolle spielen; wird hier gerne der Vorwurf der unsachgemäßen Haltung erhoben. Das Gleiche gilt für Charakterzüge aller Art: ob ein Hund bellfreudig ist, andere Hunde nicht mag; misstrauisch ist gegenüber Menschen oder gar nach vorne geht und beißt! Ich will es gleich auf die Spitze treiben und sagen: Wer einen guten Hund bekommt und nicht allzuviel falsch macht am Anfang, wird auch später einen guten Hund haben! Wer einen schlechten Hund bekommt, hat viel Arbeit und erntet wenig Anerkennung, obwohl er mehr leisten musste! Ein alter und inzwischen verstorbener Berufsschäfer schrieb einmal an Dr. Helmut Raiser (stand mal auf der Homepage vom RSV2000, finde es jetzt auf die Schnelle aber nicht), Gehorsam sei zu fast 100 Prozent vererbbar! Gute Schäferhunde (im Wortsinn; also gute Hütehunde) mir Arbeitsfreude erkenne man schon im Welpenalter und durch den Blick auf die Elterntiere!
Vielleicht kann man hierzu Erfahrungen austauschen! Ich habe nun erst vier Welpen aufgezogen und doch war jeder anders! Meine Sarah war einTraumhund, die wenig Erziehung und Motivation brauchte und dennoch in allen Lebenslagen leicht zu händeln war und auf dem Platz toll arbeitete. Die Rüden sind alle komplett anders und vor allem schwieriger! Wenn ein Welpe zu mir kam, wurde er von der ersten Minute an mit allem sozialisiert, was da kreucht und fleucht und was überhaupt denkbar war und nach der letzten Impfung schleppteich sie zu allen möglichen Anlässen mit; damit sie die Welt, die Tiere und die Menschen kennenlernen konnten! Zuerst natürlich die Familie, dann fremde Kinder, alte Leute mit Gehstöcken oder Regenschirmen, Männer und Frauen, laute und leise Menschen. Dann natürlich andere Hunde, Katzen, Hühner, Pferde, Rinder und so weiter und so fort. Groß genug durften sie mit ins Dorf, ins Wirtshaus, zum Volksfest oder in die Kleinstadt; natürlich ins Auto und zu Besuch bei Freunden. Alle vier Welpen haben das gleiche Programm durchlaufen, keiner wurde überfordert oder gezwungen – und dennoch sind zwei menschenfreundlich, einer ist misstrauisch und einer gar ein Misanthrop!
Wie kommt so etwas? Da müssen doch die Erbanlagen eine Rolle spielen! Hector, der letzte aus seinem Wurf, ist als Welpe im Laufgitter vor mir und allen anderen Menschen weggelaufen und hat herzzerreißend geheult, als man ihn von seiner Mutter trennte! Daheim schloss er sich sofort der Althündin an, obwohl die ihn eifersüchtig gar nicht mochte und nach einigen groben Zurechtweisungen links liegen ließ. Es hat fast zwei Jahre gedauert und eine Kastration gebraucht, bis er auf dem Level an Bindung und Gehorsam war, den Sarah und Willi von der ersten Minute an hatten. Ihm ist nie etwas Schlechtes von anderen Menschen oder Tieren widerfahren und trotzdem zeigt er das scheue Wesen eines Wolfs und lässt sich ausschließlich von mir füttern und führen. Er hasst andere Hunde und nur über den Gehorsam ist er auswärts in Zaum zu halten. Für ihn bedeutet Hundeplatz Stress, den er nicht braucht. Dass man ihn unbedingt zum Schutzdienst zwang, führte dann zu seiner Fixierung auf dicke Jackenärmel. Der Unterschied zwischen Anlage und Sozialisation ist hier schön zu sehen. Willi dagegen war von Anfang an ein Sonnenschein, liebt alle Menschen und Hündinnen und Rüden, die sich unterwerfen! Den könnte man mit Zwang arbeiten, der nähme nichts übel; aber das ist auch gar nicht notwendig. Nur eifersüchtig ist er halt wie ein Diva! Ist Eifersucht vererbbar oder eine Folge der Erziehung? Wolf nun, der jüngste im Bunde, der verhätschelt vom Rest des Rudels aufwuchs, bellte schon mit fünf Wochen seine Geschwister an und ist auch jetzt extrem bellfreudig und territorial! Auch ist er zart und ein Schwanzwedler vor dem Herrn; aber wehe, es kommen Artgenossen; da will er schnappen. Weiß der Teufel warum, er hat sich als Welpe mit allen vertragen; aber er ist eben auch ein Stiefbruder des Altrüden.
Welche Rolle also spielen die Erbanlagen und wo enden die Möglichkeiten der Sozialisation?